Was nun Kinder und Jugendliche brauchen

Die letzten eineinhalb Jahre haben vor allem den Kindern und Jugendlichen viel abverlangt. Es macht beinahe den Anschein, dass wir eine neue Zeitrechnung haben, wenn wir von der Zeit „vor Corona“ sprechen. Da für Kinder und Jugendliche das Zeitgefühl ein völlig anderes ist, als für uns Erwachsene, fühlt es sich für die Kinder viel viel länger an. „Vor Corona“ gab es folgende Dinge die Kinder und Jugendliche brauchen:

Für eine gesunde Entwicklung brauchen Kinder mehr als nur Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Der Wunsch nach Nähe zu vertrauten Personen und das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz gehören ebenso dazu wie der Drang, Neues zu erleben und die Welt zu erkunden.

Der amerikanische Kinderarzt T. Berry Brazelton und der Kinderpsychiater Stanley Greenspan unterscheiden sieben Grundbedürfnisse, deren Befriedigung Voraussetzung für eine glückliche Entwicklung der Kinder ist.

1. Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen

Damit Kinder Vertrauen und Mitgefühl entwickeln können, benötigen sie eine einfühlsame und fürsorgliche Betreuung. Jedes Kind braucht mindestens eine erwachsene Person – besser zwei oder drei, zu der es gehört und die das Kind so annimmt, wie es ist. Für Eltern ist ihr Kind etwas ganz Besonderes. Ihre liebevolle Zuwendung fördert Warmherzigkeit und Wohlbehagen. Sichere und einfühlsame Beziehungen ermöglichen dem Kind, seine eigenen Gefühle in Worte zu fassen, über seine Wünsche nachzudenken und eigenständige Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu Erwachsenen aufzunehmen. Der Austausch von Gefühlen bildet nicht nur die Grundlage für die meisten intellektuellen Fähigkeiten des Kindes, sondern auch für Kreativität und die Fähigkeit zu abstraktem Denken. Auch das moralische Gefühl für das, was richtig und was falsch ist, bildet sich vor dem Hintergrund früher emotionaler Erfahrungen heraus.

2. Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit

Von Geburt an brauchen Kinder eine gesunde Ernährung und angemessene Gesundheitsfürsorge. Dazu gehören ausreichend Ruhe, aber auch Bewegung, medizinische Vorsorge (Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, Zahnpflege) und die fachgerechte Behandlung auftretender Krankheiten. Gewalt als Erziehungsmittel in jeder Form ist tabu. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Behandlungen gerade durch die Personen, die dem Kind nahe stehen, sind mit nachhaltigen Schäden für den Körper und für die Seele des Kindes verbunden.

Besonders in den ersten Lebensjahren wirken sich Störungen liebevoller Beziehungen und Störungen der körperlichen Unversehrtheit negativ aus.

3. Das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen

Jedes Kind ist einzigartig und will mit seinen Eigenarten akzeptiert und wertgeschätzt werden. Kinder kommen nicht nur mit unterschiedlichem Aussehen und anderen körperlichen Unterschieden zur Welt. Auch angeborene Temperamentseigenschaften unterscheiden sich stark, sogar bei Kindern aus derselben Familie. Manche Kinder sind stärker zu beeindrucken als andere, regen sich schneller auf, sind hoch aktiv und finden schlechter wieder zur Ruhe zurück. Andere dagegen sind nur schwer zu bewegen, reagieren gelassen und ziehen sich eher in sich zurück.

Kinder wollen in ihren individuellen Gefühlen bestätigt werden. Sie wollen, dass ihre Talente und Fertigkeiten gefördert und nicht für zu hochgesteckte Entwicklungsziele missbraucht werden. Aber auch wenn Talente und Begabungen nicht erkannt werden, kann dies beim Kind zu Entwicklungsbeeinträchtigungen führen. Je besser es gelingt, den Kindern diejenigen Erfahrungen zu vermitteln, die ihren besonderen Eigenschaften entgegenkommen, desto größer ist die Chance, dass sie zu körperlich, seelisch und geistig gesunden Menschen heranwachsen.

4. Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen

Mit wachsendem Alter müssen Kinder eine Reihe von Entwicklungsstufen bewältigen. Auf jeder dieser Stufen erwerben sie Grundbausteine der Intelligenz, Moral, seelischen Gesundheit und geistigen Leistungsfähigkeit. In einer bestimmten Phase lernen sie zum Beispiel, Anteil nehmende und einfühlsame Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen, während sie sich in einem anderen Stadium darin üben, soziale Hinweise zu verstehen, und in einem dritten Stadium zum kreativen und logischen Denken vordringen. Auf jeder Stufe der Entwicklung sind altersgerechte Erfahrungen notwendig. Kinder meistern diese Entwicklungsaufgaben in sehr unterschiedlichem Tempo. Der Versuch, das Kind anzutreiben, kann die Entwicklung insgesamt hemmen. Wenn Kinder zu früh in erwachsene Verantwortlichkeiten gedrängt werden, können sie nachhaltigen Schaden nehmen. Deshalb sollen Kinder nicht zur verantwortlichen Erziehung von Geschwistern missbraucht oder zur Versorgung von Erwachsenen herangezogen werden.

Auch übermäßige Behütung und Verwöhnung kann Kindern Schaden zufügen. Stolpersteine müssen von ihnen in beschützten Rahmenbedingungen selbständig überwunden werden. Wenn wohlmeinende Erwachsene diese immer wieder aus dem Weg räumen, unterschätzen sie die Fähigkeit der Kinder, sie selbst überwinden zu können. Dies führt zu Demütigung und Selbstunterschätzung beim Kind.

5. Das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen

Damit Kinder Freiräume erobern und sich gefahrlos entwickeln können, brauchen sie sinnvolle Begrenzungen und Regeln. Wohlwollende erzieherische Grenzsetzung fordert die Kinder auf liebevolle Weise und fördert beim Kind die Entwicklung innerer Strukturen. Grenzen müssen auf Zuwendung und Fürsorge, nicht auf Angst und Strafe aufbauen. Denn mit dem Wunsch des Kindes, den Menschen, die es liebt, Freude zu bereiten, gelingt ihm Schritt für Schritt die Verinnerlichung von Grenzen, die es als notwendig zu akzeptieren lernt. Schläge und andere Formen von Gewalt oder Erniedrigung sind als Formen der Grenzsetzung nicht akzeptabel und gesetzlich verboten. Kinder zu erziehen bedeutet nicht, sie für ihr Fehlverhalten zu bestrafen, sondern ihnen die Anerkennung von Regeln und Grenzen zu erleichtern.

Kinder leiden auch, wenn die Grenzsetzung unzureichend ist. Bei dem Kind entstehen dadurch unrealistische Erwartungen, die schließlich über das Scheitern an der Wirklichkeit zu Frustration, Enttäuschung und Selbstabwertung führen. Die liebevolle Grenzsetzung bietet nach außen hin Schutz und Geborgenheit, weil das Kind Halt und Sicherung erlebt. Die Grenze bietet auch Hindernis und Widerstand und kann zur Herausforderung werden. Mit liebevollen Bezugspersonen wird um die Grenzen gerungen. Argumentieren und Durchsetzen werden geübt. Schritt für Schritt gelingt es dem Kind, sich gegenüber den Eltern Spielräume und Grenzverschiebungen zu erarbeiten. Der durch Grenzen abgesteckte Erfahrungsraum wird überblickbar, bietet Anregung und lässt der Neugier gefahrlos freien Lauf.

6. Das Bedürfnis nach stabilen und unterstützenden Gemeinschaften

Mit zunehmendem Alter gewinnt die Gruppe der Gleichaltrigen immer mehr die dominierende Bedeutung für Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwert der Kinder und Jugendlichen. Die Entwicklung von Freundschaften ist eine wichtige Basis für das soziale Lernen. Soziale Kontakte, Einladungen zu anderen Kindern, Übernachtungen außerhalb des Elternhauses stellen wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung sozialer Fertigkeiten dar. Kinder und Jugendliche lernen, sich selbst besser einzuschätzen und zu behaupten, Kompromisse einzugehen, auf andere Rücksicht zu nehmen und Freundschaft und Partnerschaft zu leben. Dies alles trägt zur Entwicklung sozialer Verantwortlichkeit bei, die wiederum die Voraussetzung für eigene spätere Elternschaft darstellt.

7. Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit

Das siebte Grundbedürfnis von Kindern betrifft die Zukunftssicherung. Immer mehr hängt das Wohl jedes einzelnen Kindes mit dem Wohl aller Kinder dieser Welt zusammen. Die Erwachsenen gestalten die Rahmenbedingungen für die nächste Generation. Weltweite Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft tragen hier eine bisher nicht eingelöste Verantwortung. Ob Kinder und Jugendliche diese Welt als beeinflussbares Ordnungsgefüge oder unheimliches Chaos erleben, hängt von ihrer Persönlichkeit ab, welche die Eltern und alle anderen Erwachsenen mit gestaltet haben.

Literaturhinweis: Brazelton, T. B./Greenspan, S. I. (2002): Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern.

All das hat sich nicht verändert. Kinder und Jugendliche brauchen nach wie vor diese Dinge. Es hat sich jedoch in jedem Bereich etwas verändert. Durch Lockdowns, persönliche Schicksale, Überforderung, Wut, Trauer, Belastungen… usw. haben die Kinder und Jugendliche viele „Einschnitte“ hinnehmen müssen. Durch die Vorbildwirkung zu Hause dominiert eine persönliche Meinung zur gegenwärtigen Situation. Meist sind die Konversationen über das Thema sehr negativ behaftet, was Kinder und Jugendliche sowohl auditiv hören aber auch empathisch wahrnehmen, ohne dies wirklich zu wollen. Kinder und Jugendliche leiden hier nun sehr häufig durch:

  • Ängste: Experten bemerken vor allem, dass Ängste unter Kindern und Jugendlichen zugenommen haben.
  • Depressive Verstimmung: Wenn die Ängste länger anhalten, kann dies in eine depressive Verstimmung übergehen, mit niedergedrückter Stimmung, Rückzug und Verlust von Interessen und Freude.
  • Verhaltensstörungen: Manche Kinder und Jugendliche reagieren mit Verhaltensstörungen wie Hyperaktivität und Aggressivität.
  • Psychosomatische Symptome: Bei manchen Sprösslingen treten psychosomatische Symptome auf wie Magen- oder Kopfschmerzen.
  • Essstörungen: Im Coronajahr ist die Zahl der Jugendlichen deutlich gestiegen, die wegen einer Essstörung behandelt werden.
  • Schlafstörungen: Eine weitere verbreitete Folge der seelischen Belastungen sind Schlafstörungen. Eltern beobachten schon bei den Jüngsten Probleme mit dem Ein- und Durchschlafen.
  • Gewichtszunahme: Ist zwar keine psychische Störung, sie kann aber bestehende psychische Probleme verstärken.
  • Antriebslosigkeit: Wird durch fehlende Perspektiven, Visionen und Ziele verursacht.
  • Weinen oder zurückziehen: Als Zeichen der emotionalen Überforderung reagieren die Kinder und Jugendlichen

Was kann man nun tun?

Das wichtigste ist, das Kinde/ den Jugendlichen gut im Verhalten zu beobachten um konkrete Veränderungen ansprechen zu können. Versuchen Präsent sein und Zugänglich bleiben. Die Kinder und Jugendlichen kommen auch von sich aus, wenn es für sie gerade der richtige Zeitpunkt ist.

Gemeinsam kann man mit den Kinder und Jugendliche das Erlebte reflektieren (auf Basis des beobachteten Verhalten, ohne Interpretation) und suchen und finden von individuellen Bewältigungsstrategien. Zu diesen Strategien gehört unter anderem:

  • negative Gefühle wie Depression, Angst und Panik vermindern
  • seelisches Gleichgewicht stabilisieren
  • Selbstwahrnehmung und Selbstwertgefühl verbessern
  • körperliche Krankheitssymptome reduzieren
  • Ernährungs- und Bewegungsverhalten stabilisieren
  • Abstand zum aktuell belasteten häuslichen Umfeld gewinnen

Ich unterstütze sie und ihr Kind gerne durch diese schwierige Zeit.

 

 

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